Verzicht als Heilmittel in Krisen

Von Christian Hirsig

“Was dich nicht umbringt, macht dich stärker” hat mir mein Grossvater immer gesagt. Und genau so ist es mit der Corona-Krise. Wir haben als Gesellschaft bewiesen, dass wir verzichten können und unsere Politik hat bewiesen, dass sie agieren kann. Zwei hoffnungsvolle Tatsachen, die uns vielleicht auch die Klimakrise überwinden lassen. 

Im Februar bin ich mit meinen beiden Jungs (3 und 5 Jahre alt) bei eisigen Temperaturen ausgerüstet mit Handschuhen und Mützen bei Coop einkaufen gegangen. Eigentlich ein gewöhnlicher Pre-Corona-Einkaufstag mit einer langen Einkaufsliste und regelmässigen Appellen an meine Gutmütigkeit im Stile: «Oh… könnten wir nicht diese Schoggi-Käferli zum Zvieri kaufen, sie sind so herzig?» Doch dann passierte etwas Episches. Wir näherten uns der Frischzone und wurden empfangen von vollen Körben mit Erdbeeren. Da meinte der Ältere: «Wow so cool, dass bereits im Winter Erdbeeren wachsen. Können wir Erdbeertörtchen zum Zvieri machen?» Schwierig … was antwortet da der klimasensibilisierte Vater? Ich hab mich für die ehrliche Variante entschieden. «Sieh Max, diese Erdbeeren werden in erdölbeheizten Treibhäusern in Spanien angebaut und dann mit dieselangetriebenen Lastwagen in die Schweiz gefahren. Die wachsen leider nicht im Winter.» Er schaute mich an und nach etwas zögern fragte er: «Aber warum verkauft Coop die denn?» Okay … das ist nun Level 2. Meine Antwort: «Das kann ich dir ehrlich gesagt auch nicht beantworten. Vermutlich weil es genügend Leute gibt, die auch im Winter Erdbeeren kaufen egal wo und wie sie produziert werden?» und gleich überleitend «Wärst du damit einverstanden wenn wir im Juni zum Bauern fahren und Erdbeeren auf dem Feld pflücken und dann Erdbeertörtli machen?» Er zögerte wieder … «Okay einverstanden, aber dafür jeden Tag.» Mission accomplished – Problem vorerst gelöst. Mal sehn wie viel Erdbeertörtchen wir im Juni essen werden. Aber jetzt mal ehrlich, es kann doch nicht sein, dass Fünfjährige das Gefühl haben Erdbeeren wachsen im Winter. Irgendwo sind wir als Gesellschaft hier ziemlich auf den Holzweg gelangt. 

Szenenwechsel – heute ist Tag 30 der «ausserordentlichen Lage» in der Schweiz und die Erdbeeren und der Einklang mit der Natur beziehungsweise die Klimakrise ist abrupt in den Hintergrund gerückt. Ich muss gestehen, dass mich die Ankunft von Covid-19 in der Schweiz geistig total unvorbereitet erwischt hat. Ich dachte «ja, ja China». Dann einen Monat später «oh, Italien». Und dann eine Woche später «uii, Tessin!» und dann war der Virus hier. Ein ungebetener Gast direkt in unserer Stube. Jedoch ich bin sehr positiv überrascht wie vehement und vereint Regierung und Bevölkerung auf diese Bedrohung reagieren. Hättest du es für möglich gehalten, dass wir als Gesellschaft den Flugverkehr innerhalb von zwei Wochen um 80% reduzieren können? 

Oder innerhalb von weniger als 24 Stunden alle Restaurants und Geschäfte (ausgenommen von Apotheken und Lebensmittelgeschäften) schliessen würden? Und dies nicht nur in der Schweiz. In fast ganz Europa. In diesen Tagen sogar in vielen Regionen der Welt. Als Tüpfchen auf’s i wurden wir von unseren Regierungen gebeten zu Hause zu bleiben und jeglichen Kontakt mit Menschen, die nicht mit uns im selben Haushalt leben, zu unterbinden oder falls nicht möglich eine Distanz von zwei Metern einzuhalten. Nach ein paar Wochen Pandemie-Massnahmen dürfen wir resümieren, dass Herr und Frau Schweizer, diese Anweisung mehrheitlich mit gut bürgerlichem Gehorsam umsetzen. Ich bin beeindruckt und irgendwie auch ein bisschen stolz auf uns. 

Denn in den letzten Wochen haben wir nicht nur Regeln eingehalten, sondern wir haben unbewusst gemeinsam neue Werte definiert. Erstens die Solidarität. Sie ist grenzenlos. Hilfsplattformen und -gruppen spriessen wie Pilze aus dem Boden. Es gibt ein Vielfaches mehr Menschen, die Kinder betreuen oder für Risikogruppen einkaufen möchten, als Menschen die diese Leistungen in Anspruch nehmen möchten. Eine Solidarität, die ich in meiner Lebzeit von meinen Landsleuten so noch nicht erfahren durfte. Zweitens die Flexibilität in allen Altersschichten. Sie überrascht. Ein befreundeter Yoga-Lehrer hat mir erzählt, dass er seine Gruppe «älterer» Damen, alle über sechzig, nun über Zoom unterrichtet. Das ginge problemlos. Alle haben ihr Abo für das nächste Quartal erneuert – zum gleichen Preis notabene. Und Drittens die Kreativität. Sie ist unglaublich. Da gibt es beispielsweise ein Hotel, welches seine Zimmer neu als Co-Working Einzelbüros vermietet für Eltern, die zu Hause kein Home-Office machen können. Oder auch die Internetwitze, sogenannte Memes, haben ein neues Level an Kreativität erreicht. Da war beispielsweise ein komponierender Grossvater, der lautstark «stay the fuck home» als Refrain gebrüllt hat. Oder unzählige Eltern an Laptops die ihre Kinder mit Duct-Tape am Boden festgeklebt hatten. Und mein absoluter Favorit ein Video zum Thema Homeschooling. Sohn zu Vater: «Warum muss ich eigentlich noch Hausaufgaben machen, wenn wegen Corona die Welt untergeht?» Vater: «Dann stirbst wenigstens nicht dumm.» Sohn zufrieden: «Ok.» Diese Kreativität sollten wir in Zukunft auch in anderen Bereichen zu nutzen wissen. Die Franzosen haben vor hunderten von Jahren Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Grundlage ihrer Nation definiert. Könnte Solidarität, Flexibilität und Kreativität nicht die Basis für die internationale Gemeinschaft in der Post-Corona-Zeit werden? 

Blenden wir doch kurz die Aktualität der Gesundheitskrise aus. Denn wir befinden uns schon wesentlich länger in einer anderen Krise – in der Klimakrise. 1988 trat der Klimaforscher James Hansen vor den amerikanischen Senat und warnte öffentlich, dass die Beweislage klar sei und dass der Treibhausgaseffekt anerkannt werden muss. Leider ist aber in den letzten 30 Jahren zu wenig passiert. Die bisher spürbarsten Auswirkungen waren Waldbrände, Überschwemmungen und das rasante Aussterben von Pflanzen- und Tierarten. Das Global Humanitarian Forum hat unter der Federführung vom ehemaligen UNO-Generalsekretär Kofi Annan den Human Impact Report veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass internationale Wissenschaftler die Anzahl der Klimatoten im 2009 pro Jahr auf 315’000 schätzten und die Zahl der an den Auswirkungen der Klimakrise Leidenden auf über 325 Millionen. Beide Werte mit klar steigender Tendenz.

Die Prognosen für die nächsten Dekaden sehen zappenduster aus. Wir sind auf dem besten Weg die Klimagrenze, auf welche wir uns 2015 im Pariser Abkommen geeinigt haben, von weniger als 1.5 Grad Erwärmung bis 2100 zu verfehlen. Doch eigentlich bräuchte es gar nicht so viel. Wie kann eine Gesellschaft, die zu Corona-Zeiten (bis heute schätzt man 119’730 Corona-Tote) sich massiv einschränkt, bei der Klimakrise (bis heute wird die Zahl der Klima-Toten seit dem Bericht Human Impact Report 2009 auf mindestens 3 Millionen geschätzt) einfach sorglos weiter konsumieren? Vielleicht müsste sich die Klimakrise auch einen etwas bedrohlichen Namen wie «Apocalypse-20» zulegen. Besonders vor dem Hintergrund, dass es gegen Klimaschäden nie eine Impfung geben wird. 

Früh in meinem Leben habe ich realisiert, dass es nicht hilft sich über andere zu beschweren. Wandel beginnt bei mir selbst. Deshalb hab ich mir selbst folgende Regeln auferlegt:

  • Möglichst nicht mehr fliegen – Das tönt hart. Besonders wenn man Verwandte auf der anderen Seite der Erde hat. Jedoch ist nicht Nicht-Fliegen das Wirkungsvollste, das wir ohne Hilfe von anderen fürs Klima tun können. Ein Flug von Zürich nach New York retour verursacht ungefähr 2.6 Tonnen CO2. Das entspricht ungefähr einem ganzen Jahr Autofahren oder 292-mal mit dem Zug nach Paris retour. Man kann das CO2 auch auf Plattformen wie myclimate.org kompensieren. Aber am besten ist einfach nicht mehr fliegen. Natürlich gibt es Berufe bei denen dies nicht möglich ist. Aber auch hier haben wir in den letzten Wochen bewiesen, dass Online-Meetings oft eine gute Alternative sind.
  • Fleischkonsum massiv reduzieren – Auch das tönt hart. Ich liebe Schweinerippchen vom Grill oder Speckwürfeli über dem Nüsslersalat. Schaut man aber für wie viel Treibhausgas das Fleisch verantwortlich ist, merkt man rasch, dass dies ein Hebel sein könnte. Ein Fleischgericht belastet die Umwelt im Schnitt dreimal mehr als ein vegetarisches Gericht. Auch hier könnte man argumentieren, dass es doch ein Bio-Säuli aus dem Emmental ist und kein Rinderfilet aus Uruguay. Aber die Fakten sind erdrückend. Ein Jahr regionale, fleischlose Ernährung spart zwar weniger CO2 ein, als der Verzicht auf den Flug nach New York, leistet aber einen ebenso wichtigen Beitrag.
  • Für die Natur wählen – Ich bin in einer Unternehmerfamilie aufgewachsen und habe Wirtschaft studiert. Bis zu den Wahlen diesen Herbst habe ich eigentlich immer eher rechts der Mitte gewählt. Aber leider gibt es nur wenige Menschen in der Politik, die sich für eine rasche Netto-Null-Strategie aussprechen. Denn dies würde heissen, keine Ölheizungen mehr, Abstossen von Beteiligungen an Kohlekraftwerken, konsequente Förderung von erneuerbaren Energien, schnelles Vorantreiben von energetischen Gebäudesanierungen sowie massive Verteuerung von CO2 emittierenden Transportmitteln wie Flugzeugen, Autos und Lastwagen. 

Ich wollte wissen, was nun Nicht-Fliegen und Nicht-Fleischessen konkret in meinem Fall bedeuten würde und habe den Footprint-Rechner für Privatkonsum vom WWF viermal ausgefüllt. 

Viel Fliegen (15 – 25 Stunden pro Jahr)Nicht Fliegen
Kein Fleisch/Fisch  essen10.16 Tonnen CO2 -Äquivalente pro Jahr6.56 Tonnen CO2 -Äquivalente pro Jahr
Viel Fleisch/Fisch essen
(2 – 3x pro Tag)
11.03 Tonnen CO2 -Äquivalente pro Jahr7.43 Tonnen CO2 -Äquivalente pro Jahr

Erstaunt hat mich, dass Nicht-Fliegen für mich viermal mehr C02-Reduktion zur Folge hätte als kein Fleisch mehr zu essen. Ringe ich mich zu beidem durch, liege ich ca. 20% unter der weltweit durchschnittlichen C02 Emission von 7.41 aber nach wie vor 50% über dem, was jeder Mensch auf der Welt “zugute” hätte. Es ist schwer zu sagen, ob sich das nun lohnt oder es einfach der berühmte Tropfen auf den heissen Stein ist. Schliesslich geht es um Verzicht. Ich muss einfach aufs Grill-Steak und auf die Ferien auf den Malediven verzichten. Alleine fehlt mir irgendwie die Motivation dazu. Würden wir jedoch alle gemeinsam Verzichten, wie in Corona-Zeiten, wäre ich bereit meinen Verzicht zu leisten. Denn nur gemeinsam haben wir eine Chance das 1.5-Grad-Ziel von Paris 2100 zu erreichen und unseren Enkeln eine reelle Chance zu geben auf diesem Planeten selbst mal Grosseltern zu werden. Das ist unsere Verantwortung. Lasst uns auch über die Corona-Krise hinaus solidarisch, flexibel und kreativ sein. 


Quellen:
http://www.ghf-ge.org/human-impact-report.pdf
https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2016/co2ausstoss/
https://www.wwf.ch/de/unsere-ziele/fleisch-und-milchprodukte
https://www.wwf.ch/de/nachhaltig-leben/footprintrechner